Wie Kriemhilde von dem Drachen entführt ward
Eine Stadt liegt an dem Rheine, die Wormes ist genannt:
Da saß der König Gibich, das mach ich euch bekannt.
Mit seiner Frauen hatt er drei Söhne hochgeboren;
Viel kühne Helden gingen um seine Tochter verloren.
Als Könige herrschen sollten die Jungen einst im Land;
Es geschah an einem Mittag, dass ihre Schwester stand
An einem offnen Fenster, da kam ein Drache wild
Geflogen in den Lüften und nahm das schöne Bild.
Die Burg, die ward erleuchtet als wär sie hell entbrannt.
Hin flog der Ungeheure mit der Jungfrau allzuhand:
Er schwang sich in die Lüften zu den Wolken hoch hinan;
Vater und Mutter standen, die es gar traurig sahn.
Er trug sie in die Berge auf einen Stein so hoch,
Dass eine Viertelmeile aufs Land sein Schatten flog.
Die Magd um ihre Schöne gefiel dem Drachen grimm;
Mit Essen und mit Trinken gebrach ihr nichts bei ihm.
Er hielt sie auf dem Steine bis in das vierte Jahr,
Nie sah sie einen Menschen derweil, das glaubt fürwahr.
Sie blieb auch ganz alleine zwölf Wochen oder mehr;
Sie musste täglich weinen, die Trübsal war so schwer.
Sein Haupt der Drache legte der Jungfrau in den Schoß;
Dabei war seine Stärke so aus der Maßen groß,
Wenn er den Atem ausließ und wieder an sich zog,
Der Felsen musst erzittern unter dem Drachen hoch.
An einem Ostertage der Drache ward zum Mann:
Da sprach die Magd, die reine: „Groß Leid habt ihr getan,
Herr, meinem lieben Vater und auch der Mutter mein:
Sie leiden beide Jammer um mich und scharfe Pein.
O weh mir, lieber Herre, nun ist es mancher Tag,
Dass ich Vater und Mutter nicht sah, wie sonst ich pflag,
Noch meine liebsten Brüder: Könnt es mit Fug geschehn,
Ich wollt euch immer danken, dürft ich sie wieder sehn.
Wollt ihr nach Haus mich lassen und führen wieder heim,
Ihr habt mein Haupt zu Pfande, ich kehr auf diesen Stein.
Gewährt mirs, edler Herre, euch lohnt der liebe Gott,
So will ich immer gerne dann leisten eur Gebot.“
Da sprach der Ungeheure zu der Jungfrau hehr:
„Deinen Vater, deine Mutter ersiehst du nimmermehr.
Keine Kreatur auf Erden sollst du je wieder sehn,
Mit Leib und auch mit Seele musst du zur Hölle gehn.
Du schöne Magd so feine, du darfst dich mein nicht schämen,
Dein Leib und auch dein Leben, das will ich dir nicht nehmen.
Von heute nach fünf Jahren werd ich zu einem Mann,
So nehm ich dir dein Magdtum, du Jungfrau wohlgetan.
So musst du mir noch harren fünf Jahre und einen Tag,
Eine Frau dann sollst du werden, wenn ich es fügen mag;
So muss dein Leib und Seele hin zu der Hölle Grund.
Du bist ein’s Königs Tochter, dem mach ich es noch kund.
Was ich dir hier nun sage, das ist gewiss und wahr:
Ein Tag ist in der Hölle so lang als hier ein Jahr.
Da musst du immer bleiben bis an den jüngsten Tag;
Will Gott sich dein erbarmen, das tu er, wenn er mag.“
„Hört ich mein Leben sagen, gewaltger Jesu Christ,
Dass du gewaltig wärest über alles, das da ist
Im Himmel und auf Erden, und über jedes Ding;
Ein Wort zerbrach die Hölle, das aus deinem Munde ging.
O reine Magd Maria, du Himmelskaiserin,
In deine Gnad empfehl ich mich mit betrübtem Sinn.
Von der die Bücher sagen, du aller Jungfraun Zier,
Hilf mir von diesem Steine, allein vertrau ich dir.
Wüssten mich meine Brüder auf diesem hohlen Stein
Und gält es ihr Leben, sie brächten mich wohl heim,
Dazu mein lieber Vater: Sie helfen mir aus Not.“
Sie weint‘ aus ihren Augen täglich das Blut so rot.